Die wissenschaftliche Attraktivität, ja Popularität des Tiroler Ritters, Dichters und Sängers Oswald von Wolkenstein (1376/77–1445) erklärt sich zum großen Teil aus der Faszination seines abenteuerlichen, reich dokumentierten Lebens sowie aus den zahlreichen Besonderheiten seiner Liedkunst, die wir heute als Signum seiner Genialität schätzen:
– die Neuartigkeit seiner autobiographischen Lyrik,
– die Suggestivkraft seiner neuen Sprache sinnlicher Wahrnehmung in weltläufiger Sprachmischung voller Bilder mit lebensnahem Lokalkolorit und impressionistischen Klangmalereien,
– die facettenreichen Pointen seines Humors, seiner ironischen Desillusionseffekte, Bildmontagen und Selbstpersiflagen,
– der eigenmächtig freie, fast postmodern wirkende Umgang mit den Formen und Motiven des klassischen Minnesangs,
– die ungeheuren inneren Dissonanzen seines Werks, das unvermittelte Nebeneinander von reuelos genießerischer Sinnenfreude und reuevoll verzweifelter Jenseitsfurcht, der jähe Wechsel von unstillbarem Welterkundungsdrang zu resignierter Weltverneinung,
– die kongeniale Kompositionskunst seiner einstimmigen Melodien und seiner mehrstimmigen Sätze nach den Vorbildern der französischen und italienischen Ars Nova.
Inhaltlich lässt sich Oswalds Lyrik in drei Hauptthemenbereiche gliedern: weltliche Liebesdichtung, geistliche Dichtung, autobiographische Lieder.
Oswalds Liebeslyrik umfasst rund ein Drittel seiner mehr als 130 Lieder und Spruchgedichte. Im Unterschied zum klassischen Minnesang des 12. und 13. Jahrhunderts dominieren in Oswalds Liebesdichtung Liedtypen mit sinnlichen oder szenischen Liebesmotiven, die, wie beispielsweise das Tagelied und die Pastourelle, eher zu den Randerscheinungen des Minnesangs zählen, sowie ganz neue Inhaltstypen wie Neujahrsgrüße und Liebesduette. Außerdem besingt Oswald von Wolkenstein erstmals seine namentlich genannte Geliebte (und Ehefrau) Margarete in Motiven, Szenen und Bildern, die ganz neue Dimensionen der Sinnenfreude, der Zärtlichkeit und der Gefühlsinnigkeit erschließen. Diese neuartige Dimension emotionaler Wirkung weiß der Dichter durch die einzigartige Virtuosität seiner Reimkunst effektvoll zu steigern. Das ist besonders in solchen Liedern der Fall, worin Oswald beispielsweise Sinneseindrücke von Vogelgesang, von Frühlingsfeiern oder von Liebeswonnen in Klangbilder von bezaubernd illusionistischer Wirkung verwandelt. In diesen Lieddichtungen steigert sich seine Sprache sinnlicher Wahrnehmung zu rauschenden Festen rein sinnlicher Klangspiele.
Die geistlichen Lieder machen zahlenmäßig rund ein Viertel seines Werks aus. Macht man indes den Textumfang zum Maßstab, so füllt der geistliche Liedteil fast die Hälfte von Wolkensteins Gesamtwerk. Oswald selbst hat der geistlichen Lieddichtung allergrößte Bedeutung beigemessen, da er jede seiner Liedersammlungen mit einer Gruppe geistlicher Lieder eröffnet. Über die subjektive Wertung des Autors hinaus findet Oswalds geistliche Lieddichtung auch bei seinen heutigen Interpreten eine starke Beachtung. In der Tat sind dem Dichter auf diesem Gebiet Lieder gelungen, die textlich wie musikalisch zu seinen herausragenden Schöpfungen zählen.
Thematisch zeigt sich Wolkensteins geistliches Liedschaffen unverkennbar von den vorherrschenden Frömmigkeitsbewegungen seiner Zeit geprägt. Daher bilden bei Oswald wie im Glaubensleben des 15. Jahrhunderts die Marienverehrung sowie die so genannten ‘Vier letzten Dinge’, Tod, Jüngstes Gericht, Himmel und Hölle, die Schwerpunkte.
In seinen höfischen Marienpreisliedern entwickelt der Autor beispielsweise einen ganz neuen Stil privater Andacht. Als Darstellungsmittel für diese neue Form intim-persönlicher Marienfrömmigkeit hat Oswald von Wolkenstein, ähnlich wie in der Liebeslyrik, eine neue Sprache beseelter Sinnlichkeit geschaffen. Kraft dieser Sprachgebung erschließen sich neuartige Dimensionen religiösen Erlebens, worin Leib und Seele gleichermaßen erfasst sind und die Grenzen zwischen Menschlichem und Göttlichem im Sog sinnlicher Suggestivkraft aufgehoben scheinen. In dieser Hinsicht entfalten Oswalds Marienlieder eine ganz ähnliche Wirkung wie die spätgotischen Andachtsbilder der so genannten ‚Schönen Madonnen’, deren spirituelle Suggestivkraft bekanntlich ebenfalls von Komponenten sinnlicher Anschauung ausgelöst wird.
Wenn Oswald hingegen seine Gefangenschaftserlebnisse zum Anlass eindringlicher Gewissensforschungen macht, vermag er seine Todesängste und Gewissensnöte in Bildern von solch packender Anschaulichkeit zu beschwören, dass der Eindruck unmittelbarer Erlebnisschilderungen entsteht. Insofern gelingt es dem Dichter selbst in solchen Liedtypen einer religiös motivierten Innenschau, Psychogramme seiner Innenwelt von unverwechselbar Individualität zu erzeugen.
Den übrigen Anteil an seinem lyrischen Werk füllt die Gruppe autobiographischer Lieder. Diese Dichtungen zählen heute zu den originellsten Liedtexten Oswalds von Wolkenstein. Zu Recht. Denn die Lieder dieser Gruppe lassen sich, soweit sie sich nicht anderen geistlichen oder weltlichen Liedtypen zuordnen, kaum noch nach traditionellen Liedgattungen gliedern. Unter die Lupe einer Detailanalyse genommen entpuppt sich nämlich jedes der autobiographischen Lieder als ein Liedtyp ‘sui generis’ und verdiente daher eigentlich das Prädikat eines Solitärs.
In immer neuen Variationen inszeniert Oswald in diesen Liedern Episoden seines ereignisreichen Lebens zu Erzählliedern oder Situationsschilderungen höchster Faszinationskraft. Hier thematisiert Oswald die interessantesten Höhen und Tiefen seines Lebens: seine Ritter- und Minneabenteuer, seine offenen Kämpfe wie seine privaten Querelen und vor allem seine ausgedehnten Reisen durch Europa, Afrika und Asien, wobei der Dichter seine künstlerischen Auftritte in den erlauchten Kreisen fremder Ritter- und Fürstengesellschaften äußerst wirkungsvoll zu inszenieren versteht. Gerade der letztgenannte Typ der ‚Reiselieder’ verdient besondere Beachtung, da Oswald in diesen Dichtungen die bereisten Weltgegenden mit ihren unterschiedlichen Topographien, Menschen, Sprachen und Sitten aus eigener Anschauung und selbst erworbener Weltkenntnis schildert. So vermitteln beispielsweise die Reiseimpressionen aus Spanien, Frankreich, Ungarn, Italien und anderen Mittelmeergegenden Bilder voller lebensnahem Lokalkolorit, wie sie selbst in der Lyrik dieser Nationen einzigartig sind. Kurz: Diese Dichtungen allein genügten um zu zeigen, dass mit Oswald von Wolkenstein nicht nur einer der genialsten Lyriker deutscher Sprache wieder entdeckt worden ist, sondern auch einer der bedeutendsten Dichter der Weltliteratur.
Für die Musikgeschichte markiert Oswald von Wolkenstein ebenfalls eine bedeutende Wende. Denn in seinem Werk ist eine erste Rezeption mehrstimmiger Kompositionskunst dokumentiert, wie sie sich seit dem 13. Jahrhundert zunächst in Frankreich, danach in Italien entwickelt hatte. Bisher konnten Musikwissenschaftler bereits über 30 Kompositionen als Bearbeitungen französischer oder italienischer Sätze nachweisen. Auf Grundlage dieser musikwissenschaftlichen Forschungen haben Mittelalter-Ensembles in aller Welt Lieder Oswalds von Wolkenstein bereits in über 100 Einspielungen der Öffentlichkeit zugänglich gemacht.